Inquiry – unser zweiter Begleiter für dieses Jahr:

Inquiry – oder zu deutsch: erforschendes Gespräch – stellt eine der Grundarbeitsformen unserer Gruppe dar, der ihr voraussichtlich bei allen unseren Treffen begegnen werdet. Zwei Spielarten davon habt ihr beim ersten Treffen bereits kennengelernt, die Repeated Questions in der Dyade und den Monolog in der Triade. Ich nenne die Inquiry in unserem Kontext gerne Contemplative Inquiry, um sie von anderen Formen der Inquiry abzugrenzen (wie z. B. gerichtliche oder wissenschaftliche Inquiry). Aber das ist v.a. im Englischen wichtig, während im Deutschen das englische Wort Inquiryohnehin meistens im kontemplativen Sinne verwendet wird.

Das Prinzip von Inquiry ist, aus der Präsenz, aus dem Augenblick heraus, über das zu sprechen, was dir zu der jeweils gestellten Frage oder dem vorgegebenen Thema einfällt. Satz für Satz kannst du dabei aufs Neue hinspüren, was in dir auftaucht. Wenn du das dann aussprichst und danach erneut hinspürst, kannst du Satz für Satz und Schicht für Schicht tiefer gehen und in alle möglichen Richtungen Richtungen explorieren und auf neue Erfahrungsaspekte stoßen. Oft sind es Körperempfindungen, Gefühle oder subtile Ahnungen, die andeuten, was sich gerade zeigen will, und die dir den Weg weisen können. Es ist daher gut, beim Sprechen die Aufmerksamkeit nach innen und auf den Körper zu richten und dem roten Faden, der sich dabei zeigt, ohne viel Nachdenken zu folgen. Wichtig ist auch, dass du dich nicht bemühst, bestimmte Standards zu erfüllen, wie z. B. eine kohärente Geschichte oder „etwas Besonderes“ zu erzählen, für die anderen verständlich sein oder klug und kreativ zu erscheinen. Sprich einfach aus dem Herzen, unterlaufe dabei das Radar deines eigenen inneren Zensors, und höre dir selbst beim Sprechen zu.

Auf diese Weise lernst du im Laufe der Zeit, in der Inquiry aus einer kontemplativen Geisteshaltung, also aus einer eher meditativ betrachtenden anstelle einer sonst eher intellektuell reflektierenden Haltung, zu sprechen. Diese Haltung liegt in der Mitte zwischen aktiv und passiv: Halb spürst du aktiv nach, was du denkst und empfindest, und halb lässt du dich passiv von Gedanken und Empfindungen berühren, die von sich aus auftauchen. Die Inquiry in Dyaden und Triaden wird so zu einer Form von gemeinsamer Meditation und wir gelangen dabei in Kontakt mit einer tieferen Schicht des Bewusstseins, dem reinen Gewahrsein, das von der Konditionierung durch unsere Kultur und durch unsere Biografie (weitgehend) unbeeinflusst ist. Wenn wir aus diesem Gewahrsein heraus sprechen, können wir unsere Erfahrung mit frischen Augen betrachten, sie ohne Bewertung und konventionelle Etikettierung an uns heranlassen und umfassender verstehen. Das kann manchmal tiefe Einsichten vermitteln.

Freilich geht das nicht von heute auf morgen, aber ich hoffe sehr, dass wir im Laufe des Jahres in der Inquiry immer tiefer gehen können und dass sie sich immer mehr von der Alltagskommunikation (mit ihrer Tendenz zu Konventionalität und Vergangenheitsorientierung) unterscheidet und stattdessen getragen ist von Frische, Neugier, Feinfühligkeit, Offenheit, Akzeptanz, vorsichtiger Spurensuche, beginner’s mind, non-judgmentality, Voraussetzungslosigkeit, Mut, Mitgefühl und v.a. von ihrer unbedingten Ausrichtung auf Wahrheit. Wahrheit meint dabei nicht etwas Endgültiges, sondern eher das, was für dich in diesem Augenblick subjektiv stimmig ist. Mit dem, was du sagst, kannst du prüfen, ob es wirklich das ist, was du empfindest, und du kannst dich schrittweise dieser Stimmigkeit annähern. Die Inquiry wird dadurch zu einer Übung in bewusster und präziser Subjektivität, zu einer Übung in hochauflösender Betrachtung unserer Erfahrung – unserer first person experience (im grammatikalischen Sinne von ich = „erste Person“) als wichtigstem Kontakt zur Welt.

Und nun zu den Aufgaben für diese Woche:

Mind Practice

Bitte lies diese beiden kurzen Texte zu Inquiry:

Add-On: Wenn du noch mehr dazu wissen willst, so findest du ein spezielles Kapitel zu Inquiry („Achtsames Sprechen und Zuhören“) in dem Buch Achtsamkeiten auf S. 87-93.

Skill und Heart Practice

Versuche in dieser Woche mindestens einmal ein Gespräch mit einer dir mehr oder weniger bekannten Person (z. B. Kolleg:in) zu führen, in dem du bewusst zuhörst, dich innerer Kommentare enthältst und den Verständnisraum weit offen hältst, so dass sich die andere Person möglichst frei und ungehindert ausdrücken kann.

Dein Post

Bitte reflektiere hier im Stil der Contemplative Inquiry zu folgenden Fragen:

  • Wie wirkt die Praxis von Contemplative Inquiry bisher auf dich?
    Hast du einen neuen Blick auf Elemente deiner Erfahrung werfen können?
  • Was hat dich in den Texten angesprochen?